Willkommen in der neuen Realität
Es ist eine „neue Realität“ – Nina kommt nach und nach in ihrem Alltag als Fellow an. Sie schreibt über Nervosität, tägliche Herausforderungen und Erfolgserlebnisse. „Das ist schon verrückt – vor zwei Monaten kannten wir diese Menschen noch gar nicht und jetzt ist das ein Wiedersehen wie mit den besten Freunden. Überhaupt ist so vieles neu; der Alltag in der Schule und das ganze Teach First Deutschland Netzwerk – und das auch noch in einer neuen Stadt. Das ist jetzt unsere neue Realität!“ Wir sitzen in Köln beim morgendlichen Kaffee zusammen. Es ist der Tag nach dem Teach First Deutschland Summit und Alumniauftakt, als meine Fellowkollegin Lisa so treffend zusammenfasst, wie es wohl vielen von uns gerade geht. Ich habe mich extrem gefreut, bei diesem Event Fellows, Alumni und Teammitglieder aus ganz Deutschland wiederzusehen. Für mich sind bereits die ersten paar Wochen meines Schuleinsatzes geschafft, andere Fellows der Klasse 2018 haben gerade erst ein paar Tage Schulluft schnuppern dürfen. Die Fellows in Baden-Württemberg haben den Start sogar noch vor sich. Neben dem spannenden und intensiven Programm des Summits, war das auch ganz klar unser wichtigstes Thema: „Wie ist es dir ergangen? Wie sind die Kolleginnen und Kollegen da so? Hast du schon einen Stundenplan? Wie ist das Umfeld?“ Wir tauschten uns aus, glichen unsere Blickwinkel ab, gaben auch mal Einschätzungen und Tipps. Ich finde es spannend, wie alle ihre ganz unterschiedlichen Erfahrungen machen, und auch irgendwie schon ins Schwitzen geraten sind, aber trotzdem ein positives Zwischenfazit ziehen. Die Sommerakademie ist gerade erst einen Monat her. Inzwischen ist aber so viel passiert, dass es sich schon fast wie ein Bruch mit der Realität anfühlt, plötzlich wieder vollkommen im TFD-Universum zu sein. Doch halt – Lisa hat Recht: Das ist jetzt unsere Realität! Teach First Deutschland ist nicht nur die Sommerakademie. Die Organisation und das Netzwerk sind jetzt Teil unseres Lebens. Darüber bin ich immer noch sehr froh. Es tat auch irgendwie verdammt gut, nach einigen Wochen Alltag an den Teach First Deutschland Gemeinschaftsgeist erinnert zu werden und mit einigen der Menschen zu quatschen, die ich so liebgewonnen habe. Es war erleichternd, über meine Sorgen und Schwierigkeiten mit Leuten zu reden, die in der gleichen Situation stecken und von meinen kleinen Erfolgen zu berichten. Die eine oder andere Anekdote aus dem Schuleinstieg durfte dabei natürlich nicht fehlen. „Frau Siemer, ich hab noch eine Frage!“, meldete sich beim Rausgehen ein Schüler der 8. Klasse, die ich gerade hospitiert hatte – nennen wir ihn Ahmet. „Ja?“ „Frau Siemer, kennen Sie schon meinen Namen?“ „Ja, Ahmet, den kenn ich.“ „Mist, das ist kein gutes Zeichen…!“. Messerscharf beobachtet, junger Mann, das ist nicht unbedingt ein Qualitätsmerkmal. Aber für diese Erkenntnis gewann er spontan meine Anerkennung. Überhaupt sind Namen so ein Thema. Ich beobachte, wie ich schon nach zwei Wochen Hospitation in den verschiedenen Klassen quasi alle als Störenfriede bekannten Schüler (ja, sie sind tatsächlich alle männlich) namentlich kenne, selbst wenn ich nur kurz oder gar nicht in ihrer Klasse war. Schade eigentlich, die anderen würde ich auch gerne schon kennen. Aber das kommt sicher bald. Gleichzeitig ist auch mein Name irgendwie ein Politikum, für mich zumindest. Noch halte ich meinen Vornamen eisern geheim. Noch freue ich mich sehr, wenn die Schülerinnen und Schüler meinen Nachnamen wissen, oder zumindest dessen Anfangsbuchstaben. Mein Highlight ist dabei ein Neuntklässler, der schulweit bekannt ist. Ein Riesenkerl der etwas total Liebes hat, aber das mit der Selbstkontrolle nicht so richtig hinbekommt. Er ist der Erste, der meinen Namen gelernt hat, sogar noch vor dem Großteil meiner Kollegen. Jetzt ruft er mir immer quer über den Schulhof ein fröhliches „Hallo Frau Siemer!“ zu, wann immer er mich sieht. Und er war richtig enttäuscht, dass ich nicht in seiner Klasse unterrichten werde. Womit ich diesen Stein im Brett verdient habe, weiß ich auch nicht. Überhaupt sind die Schülerinnen und Schüler viel netter als ich erwartet hatte. Klar, die machen auch viel Blödsinn und jedes kleine bisschen Arbeit ist definitiv zu anstrengend für sie. Eigentlich wollen sie aber alle nur Liebe und Aufmerksamkeit, jede und jeder auf die eigene Art. Und schlau sind sie – auch wenn sie ihre Energie nur selten für Unterrichtsinhalte verwenden. Heute habe ich einer 8. Klasse eröffnet, dass ich jetzt in Deutsch und Englisch öfter dabei bin und ihnen nochmal erklärt, wer ich bin und was ich so mache. Es wurde immer wieder unruhig, aber ich habe relativ erfolgreich die ganzen lustigen Sachen angewendet, die wir auf der Sommerakademie gelernt haben und hatte auch noch die eigentliche Lehrkraft als Unterstützung. Anstrengend war es trotzdem. Auf einmal meldet sich einer der Jungs, den ich aus oben genannten Gründen auch schon namentlich kannte. Innerlich feiere ich ihn noch dafür, dass er tatsächlich aufgezeigt hat. Da platzte es schon aus ihm heraus: „Sind Sie nervös? Sie sehen so rot aus im Gesicht!“ Groah. Voll erwischt. Natürlich bin ich nervös. Das kann ich jetzt aber auf gar keinen Fall zugeben und umschiffe das Eingeständnis gerade so. Rückblickend bin ich eigentlich vor allem begeistert von seiner Beobachtungsgabe. Klar wollte er mich provozieren – geschenkt. Aber in dem Kerlchen steckt doch Potential! Im Nachhinein habe ich von der Lehrkraft ein dickes Lob für meinen Umgang mit ihm bekommen. Auch das habe ich schon gelernt: Lob aus dem Kollegium ist ein rares Gut, das ich unbedingt wertschätzen muss, selbst bei meinem sehr netten Kollegium. Umso besser ist es, dass diese Woche schon meine Programm-Managerin von Teach First Deutschland zum Auftaktgespräch mit der Schulleitung da war und auch mein erstes Regionalgruppen-Treffen stattgefunden hat. Da kann ich mir nämlich immer sehr sicher sein, dass ich einen Haufen Komplimente für meine Arbeit bekomme und wir alle unsere positiven Erlebnisse füreinander verstärken und unsere Schwierigkeiten in Chancen und Lösungen ummünzen. Wie schön ist es, diese Sicherheit zu haben! So strukturiert sich langsam mein neuer Alltag. Ich komme an in meiner neuen Realität. Vor einem Jahr habe ich mir nicht träumen lassen, dass mir das hier mal Spaß machen könnte. Vor einem halben Jahr hatte ich die Bewerbung abgeschickt und gerade meine Zusage bekommen, aber war voller Fragezeichen. Vor drei Monaten plagten mich Selbstzweifel und ich war mir fast sicher, dass mich die Realität im Klassenzimmer völlig überfordern wird. Vor einem Monat stieg die Nervosität, ob ich die ganzen Dinge, die ich auf der Sommerakademie gelernt habe, tatsächlich umsetzen kann. Jetzt, so langsam, stelle ich fest: Irgendwie klappt alles. Nicht problemlos und nicht mal eben so, aber: Ich bin nicht alleine, ich habe viel gelernt und ich kann mich den Herausforderungen stellen. Läuft doch, das mit der neuen Realität!